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New Phantom Hooper Round-door Rolls

Undenkbar. Ungeheuer. Unerreicht.

Neben ihm wirkt ein Duesenberg wie ein kleiner Wicht: Das einmalige Design des Jonckheere-Rolls-Royce wurde in den 1930er Jahren von der Vorstellung inspiriert, wie das „Auto der Zukunft“ ausschauen könnte.

Octane No. 11, Juli 2014 * Autor: David Burgess-Wise * Übersetzung: Matthias Breusch


Es war nicht weniger als Detroits „Hochzeit des Jahres“: Die „Motor-Millionärin“ Anna Dodge, Witwe von Horace Dodge und dem Hörensagen nach seinerzeit reichste Frau der Welt, heiratete Hugh Dillman, einen Immobilienmakler aus Florida, am Ufer des Lake St.Claire in der angesagten High-Society-Enklave von Grosse Point – in einer Villa im Tudor-Stil, die sie für ihren Sohn Horace junior nahe ihres eigenen Palasts namens Rose Terrace erworben hatte.

Nach der Zeremonie am 8. Mai 1926 begab sich das glückliche Pärchen auf Flitterwochen nach Europa: auf der Berengia, einem White-Star-Liniendampfer der Reederei Cunard, Richtung England.

Anna hatte Hugh, wenn man der leicht überhitzten Poesie der Presse Glauben schenken mag, in Venedig kennengelernt – „in einer Nacht, als das Licht des Monds mit verführerischem Glanz in den Fluten des Grande Canale badete, als ob die Welt aus nichts anderem bestünde als aus ewiger Romantik. Die Gondel, in der Mrs. Dodge und ihre Zofe unterwegs waren, kollidierte mit einem anderen Boot. Statt wieder ihren jeweiligen Kurs einzuschlagen, gerieten die beiden Gondoliere in einen heftigen Streit. Gerade als sie zu bedauern begann, sich ohne männlichen Schutz aufs Wasser begeben zu haben, bemerkte sie, wie eine weitere Gondel längsseits ging. Deren einziger Passagier war ein breitschultriger Kavalier, dessen Kleidung sich wie angegossen an seinen muskulösen Körper schmiegte. Hugh Hillman war der Prachtkerl, der wie gerufen zur Rettung unserer Heldin parat stand. Ein paar Worte in schneidigem Italienisch genügten, um die zeternden Bootsführer zum Schweigen zu bringen.“

 

Leider entsprang diese Schilderung lediglich einer überaus blühenden Phantasie. Es war wohl eher so, dass das erste Treffen der beiden Herzchen stattfand, als der ehemalige Schauspieler und Manager einer farbigen Sangesgruppe den Verkauf von Mrs. Dodges Winterquartier Playa Riente in Palm Beach über die Bühne brachte, was ihm eine großzügige Provision von einer Million Dollar bescherte.


Furchtlose Lustreisen

Der attraktive, aktive und bisexuelle Charmeur, der rund 40 Jahre zuvor als Hugh Dillman McGaughey in Ohio das Licht der Welt erblickt hatte, war ein gutes Stück jünger als seine Braut, die sich als 49-Jährige ausgab, aber tatsächlich bereits 55 war. Das Paar gab bekannt, die Flitterwochen würden aus einer motorisierten Rundreise durch Frankreich und Italien bestehen.

Direkt nachdem die Berengia am 18. Mai in Southampton festgemacht hatte, begaben sie sich in den Londoner Showroom der Gebrüder Rootes und erstanden dort ein Vorführ-Cabrio von Rolls-Royce: den New Phantom Hooper. Dieser Wagen mit der Fahrgestellnummer 94MC war im Oktober 1925 ausgeliefert worden. Der Rundkurs hätte sich also angeboten, um das Schmuckstück einzufahren. Aber Anna Dillman gefiel das Fahrzeug nicht, weshalb sie es bei Rootes am 5. Juni gegen ein anderes Cabriolet mit der Kennzahl 59SC eintauschte.

Am Ende ihrer Lustreise begaben sich die Dillmans auf die Heimfahrt, um die Renntage des New Yorker Yachtclubs nicht zu verpassen, und nahmen den Ersatz-Rolls mit nach Amerika.

Die Flitterwochen kamen am 22. September zu einem abrupten Ende, als ihre 80 Meter lange und zwei Millionen Dollar teure Dampfyacht Delphine – die neben 60 Mann Besatzung und imperialer Ausstattung auch über eine Orgel verfügte, deren Pfeifenbestückung auf 60.000 Dollar taxiert wurde – auf der Fahrt von New York nach Palm Beach Feuer fing.

Die Delphine überstand den Brand und wurde für 800.000 Dollar wieder instandgesetzt, aufgrund ihres kostspieligen Betriebs jedoch zwischen 1935 und 1940 in einem privaten Dock am Lake St.Clair eingemottet. 1942 wurde sie von der US Navy requiriert und diente dem Flottenadmiral Ernest J. King unter dem Namen USS Dauntless als Flaggschiff. Die „Furchtlose“ ging in der wilden Chesapeake Bay vor Anker und wurde als schwimmender Konferenzraum genutzt, um Strategien für den Pazifik-Krieg auszuhecken.

Die Ehe erwies sich als wenig belastbar, trotz 100.000 Dollar Taschengeld pro Jahr und einer sechs Millionen Dollar schweren Sicherungseinlage für Hugh Dillman. Die Romanze endete 1947 nach längerer Trennung. Anna hatte es nie verwunden, dass sie Hugh mit einem Matrosen der Delphine im Lotterbett ertappt hatte.

Ein paar Wochen nachdem die Dillmans Richtung Heimat in See gestochen waren, bekam der 94MC einen neuen Besitzer: Raja Mohammed Siddiq Khan aus Nanpara im indischen Uttar Pradesh übernahm den Wagen am 25. September 1926. Der Raja von Nanpara war ein Abkömmling des Abenteurers Rasul Khan, der das Herzstück seines Grundbesitzes 1632 von Imperator Shah Jahan, dem Erbauer des Taj Mahal, gewährt bekam. Er beherrschte einen Landstrich mit mehr als 300 Dörfern, besaß riesige Waldstücke und hatte bereits einen Silver Ghost in der Garage stehen. Er nutzte den Phantom mutmaßlich vor allem bei seinen Aufenthalten in England, statt ihn mit in die Heimat zu nehmen, denn der nächste Eintrag im Fahrzeugbrief stammt vom 17. September 1933, als er in den Besitz des Londoner Autohauses George Newman & Company überging.

 

Todsünden im Stromlinienkleid

An dieser Stelle beginnt nun die eigentliche Geschichte des Wagens. Eigner Nummer vier war ein gewisser H. Smith, der als Adresse das Hotel Welcome in der Rue la Soi in Brüssel angab. Er erstand den Phantom am 17. August 1935 und war wohl derjenige, der den berühmt-berüchtigten Umbau samt der runden Türen in Auftrag gab. Seine Wahl fiel auf einen ungewöhnlichen Karosseriebauer, denn die altehrwürdige Firma, 1881 von Henri Jonckheere in Beveren-Roeselare in Westflandern zum Bau von Pferdekutschen gegründet, hatte seit 1930 keine Karosse eines Privatwagens mehr konstruiert, sondern sich stattdessen auf Busse und Eisenbahnwaggons verlegt.

1934 hatte man allerdings für die Brüsseler Verkehrsbetriebe einen Satz modernistisch stromlinienförmiger Einzeldeck-Busse auf der Basis von Minerva-Fahrzeugen mit Frontantrieb aufgelegt. Möglichweise war es die schnittige Linienführung dieser Busse, die ihm in Brüssels Verkehr aufgefallen waren, die den Besitzer des Phantom davon überzeugte, den Auftrag an Jonckheere statt an einen renommierten Autobauer wie d’Leteren zu vergeben, um die veraltete Hooper-Karosse durch etwas noch nie Dagewesenes zu ersetzen.

Das avantgardistische Blechkleid wurde 1935 auf das zehn Jahre alte Chassis gesetzt; die runden Türen und seine markante Rückenflosse sorgten für Aufruhr; nach Rolls-Royce-Standards waren sie vollkommen undenkbar. Die üppige rote Lederverkleidung im Fahrgastraum erinnert an einen Bugatti derselben Ära; die dazu passenden Koffer verstecken sich unterhalb der Heckklappe.

Was den unbekannten Designer letztlich inspirierte, bleibt indes verborgen. Möglicherweise war es ein Kinobesuch, denn der britische Film Transatlantic Tunnel mit seinen futuristischen Wagen wie dem Tatra 77 und bizarren Attrappen des Karosseriebauers Abbey war gerade angelaufen. Vielleicht waren es aber auch die wilden aerodynamischen Formen auf der 1935er Berliner Auto-Ausstellung. Dort hatte eine Stromlinien-Limousine mit Jaray-Patent auf dem Chassis des Maybach SW35 für Aufsehen gesorgt.

Wie auch immer: Die Vision des anonymen Ingenieurs erwies sich als wahrhaft bizarr. Mit einer Gesamtlänge von 6,70 Metern und einem Leergewicht von 3.266 Kilogramm stellte der Jonckheere-Rolls-Royce jeden anderen Straßenwagen in den Schatten. Sein langgestrecktes Heck wurde mit keilförmigem Zuschnitt auf die Spitze getrieben und von einer herausstehenden Rückenflosse dominiert. Sein nach hinten geneigter Kühlergrill, flankiert von Frontleuchten in patronenförmigen Hülsen, war die radikale Abkehr von der kerzengeraden Gestaltung des Originals: die reinste Todsünde.

Das kompakte Coupé verfügte über Frontsitze, die sich zum Doppelbett umklappen ließen, zwei parallel gelagerte Schiebedächer und statt einer konventionellen Heckscheibe über Lamellenschlitze im Tatra-Stil, was den Insassen ermöglichte hinauszuschauen, ohne selbst gesehen zu werden.

Aber das Merkmal, das diesen speziellen Streamliner vollkommen vom Rest der Autowelt abheben sollte, waren seine kreisrunden Türen, „selbstmordfreundlich“ rückwärtig eingehängt und mit halbmondförmigen Scheiben versehen: Sie waren in zwei Hälften montiert und ließen sich dank eines raffinierten Kurbelsystems zur Frischluftzufuhr öffnen.

Der Wagen wurde passend zum Cannes Concours d’Elegance im Frühjahr 1936 fertig und gewann dort den Hauptpreis, aber danach verliefen sich seine Eigentumsverhältnisse im Dunkeln. Wir wissen lediglich, dass er 1940 über den Atlantik verschifft worden ist. Kurz bevor die USA 1941 in den Krieg eintraten, wurde er in Bar Harbor in Maine gesichtet, chauffiert von einem Lakaien, der viel zu gut gepolstert war. Er schaffte es kaum, sich rechtzeitig hinter dem Steuerrad hervorzuwinden, um seinem Boss die Tür aufhalten zu können.

 

17 Schichten Klarlack

Der rundtürige Rolls tauchte erst in den frühen fünfziger Jahren wieder auf: in erbärmlichem Zustand auf einem Schrottplatz in New Jersey. Sammler Max Obie erspähte den Wagen 1952 in New York und versuchte ihn zu kaufen, biss bei dessen Besitzer allerdings auf Granit. Also kaufte der hartnäckige Obie ein brandneues Cabriolet und überzeugte den Herrn damit zum Tausch der beiden Automobile.

Der 34-jährige Army-Veteran Obie, ein Vorstandsmitglied des Classic Car Club of America, betrieb zusammen mit seiner Frau Cecile eine Wanderausstellung auf Messen und in Einkaufszentren: das Obie Autorama of Famous Cars mit exotischen Fahrzeugtypen wie dem 1931er 425 Sweep Side V16 Cadillac Sport Phaeton. Obie ließ den Rolls in einem Goldfinish mit metallischem Schimmer lackieren, was angeblich dank der Zutat von drei Kilo Goldstaub unter 17 Schichten Klarlack vonstatten ging. Er überarbeitete zudem den Himmel in rotem Samt sowie die faltbaren Frontsitze und ließ einen schneeweißen Flauschteppich in den Fußraum verlegen.

Außerdem erfand er eine echte Räuberpistole, um das Gefährt anzupreisen: „Dieser fabelhafte Rolls-Royce-Sportwagen wurde 1934 für 100.000 Dollar für König Edward den Achten gebaut, 1937 im Life Magazine vorgestellt und anschließend für 30.000 Dollar weiterverkauft. Im gleichen Jahr verlor der König den Thron wegen seiner Heirat mit Wally Simpson. 1954 gewann das Auto den Hauptpreis bei der World’s Motor Sport Show in New Yorks Madison Square Garden.“

Andere ausgefuchste Prahlereien kündeten davon, dass der Wagen „ein viergängiges Renngetriebe“ besitze, das ihn „auf über 190 Stundenkilometer beschleunigt“ und dass es vier Jahre gedauert habe, um die Karosse aufzubauen. Trotz oder dank dieser Anpreisung schaffte es Obie 1954, dass der Rolls in einer Ausgabe des amerikanischen Playboy vorgestellt wurde.

Obies Autorama war auch 1960 weiterhin auf Kirmestour, wie ein Bericht des Billboard Magazine enthüllte – zusammen mit Attraktionen wie „Monkey Motordrome“, „Das letzte Abendmahl“, „Meluzzis Riesenaffen“, „Keck‘s Geisterbahn“, „Hitlers Auto“ sowie lustigen Abenteuern in „Zacchini’s Jail Funhouse“. Im Frühjahr 1964 reportierte das Magazin Classic Car, der rundtürige Rolls von Max und Cecile Obie habe sich erneut auf landesweite Rundreise begeben und sei schon „von Tausenden in diversen Städten und Dörfern“ bestaunt worden.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Obie, der stets ein Doppelleben als reisender Schausteller und Ingenieur bei Western Electric geführt hatte, längst nach Florida zurückgezogen. Dort starb er 1990 nach langer Krankheit im Herzzentrum von Miami. Er wurde 72. Cecile folgte ihm 1998. Der Rolls-Royce, mittlerweile weiß lackiert, war nach längerem Aufenthalt im Depot bereits in den Achtzigern weiterverkauft worden. Ein japanischer Sammler hatte ihn – mit nicht einmal 5.000 Meilen auf dem Tacho – für 1,5 Millionen Dollar erstanden. Er behielt ihn für 20 Jahre und überließ ihn gelegentlich Autohäusern als Ausstellungsstück.

2001 schließlich wurde der Jonckheere-Gigant vom Petersen-Museum in L.A. aufgekauft und zur Komplettüberholung an die Spezialisten von Tired Iron Works im kalifornischen Monrovia überstellt; einer Firma, die bereits allerlei Pebble-Beach-Sieger auf der Referenzliste stehen hatte. Dort wurde er von Grund auf restauriert. Dabei stellte man fest, dass das ohnehin schon lang gezogene Fahrwerk des Phantom einst von den belgischen Karosseriebauern noch weiter verlängert worden war, um es an die ausladenden Formen der neuen Karosse anzupassen. In Monrovia erhielt er auch seine schwarze Lackierung, um seine futuristischen Konturen bestens zur Geltung zu bringen.

Der überarbeitete Rundtürer wurde 2005 in Pebble Beach vorgeführt und gewann dort die Lucius Beebe Trophy für den Rolls-Royce, „der am deutlichsten in der Tradition von Lucius Beebe steht, einem Bonvivant, der zu unseren frühesten Juroren gehörte“.

Der leichtlebige Mr. Beebe, der in seinem eigenen privaten Eisenbahnwaggon zu reisen pflegte, war für die Philosophie bekannt: „Wenn man schon etwas anpackt, dann sollte man es stilvoll angehen, allein auf sich selbst hören und sich verdammt noch mal um keine Einwände anderer Leute scheren.“ So gesehen hat dieses einzigartig gestaltete Automobil mit der Louis Beebe Trophy die denkbar passendste Anerkennung gewonnen.

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