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Lancia Sibilo

Die Zukunft von 1978

1978 schlossen sich die italienischen Auto-Designer von Bertone mit Lancia für den Bau einer Konzeptstudie zusammen, deren Glasur-Finish nahtlos mit der stählernen Karosse verschmilzt.


Octane No. 22, April 2016 * Text: Richard Heseltine * Übersetzung Matthias Breusch

Dieses Fahrzeug ist ein Angriff auf alle Sinne, selbst im Stehen. Sitzt man aber erst mal drin, wird man unmittelbar in eine Zukunftswelt befördert, wie sie Designer Marcello Gandini konsequent vor Augen hatte. Der Sibilo nahm in brillanter Weise Ideen und Konstruktionsmethoden vorweg, die in folgenden Jahrzehnten bis in die Produktion von Alltagsautos durchsickerten. Zudem ist er die ultimative Evolution des Lancia Stratos, der gleichnamigen Rallye-Waffe, deren Bestandteile ihm als Basis dienten.


Der erste Eindruck ist seltsam unwohl. Man sitzt tiefer, als es praktisch erscheint, eingerahmt vom Getriebetunnel und dem, was wie die breiteste Türschwelle in der Geschichte der Christenheit wirkt. Mit den Füßen auf Pedalen, die ganz bewusst zur Wagenmitte hin positioniert worden sind. Vor dir befindet sich ein scheibenförmiges Lenkrad mit breitem Griffrand, das große Funktionsdruckknöpfe für die Daumen beherbergt. Das Armaturenbrett, falls man es überhaupt so nennen kann, ist nicht mehr als eine gepolsterte Querversteifung. Es wird verziert von horizontal angeordneten Digitalanzeigen, die in frechen Winkeln am Fuß der Windschutzscheibe platziert wurden. Erleuchtet wirkt das Ganze wie ein liebenswerter Mix aus frühkindlichem Spielzeug und antikem Sci-Fi-Hollywood. Abgesehen von der gewaltigen flachen Frontscheibe erblickt man in den Seitentüren nichts annähernd so Triviales wie etwa simples Glas: Stattdessen staunt man über Acrylfenster, in die hinein Bullaugen gestanzt worden sind.


Glas küsst Stahl


Die Kernidee bestand in der Kreation eines Autos, das neue Aspekte präsentiert, vor allem die Integration eines Glaskörpers in eine reguläre Stahlkarosse. Ziel war eine durchgehende Form – oder in Bertones Sprache – eine „einheitliche Skulptur ohne Trennlinien“. Chefdesigner Gandini war dafür genau der richtige Mann. Ein Quereinsteiger, ebenso wie sein Vorgänger in der Piemonter Designschmiede, Franco Scaglione. Gandini brach Regeln und ging Risiken ein, ohne sich groß um Konventionen zu scheren.


Gandinis ursprüngliches Stratos-Konzept Zero hatte viel dazu beigetragen, die für die Siebziger typische Origami-Styling-Laune anzufeuern. Er verfolgte dies mit der Serienproduktion des Stratos weiter, aber die offizielle Beteiligung von Lancia am Sibilo war eher von stillschweigender Natur. Bertone kaufte das Basisfahrzeug mit der Fahrgestellnummer S12201, das kein gewöhnlicher Stratos war, sondern ein mit Specials vollausgestatteter, bewährter Naturbursche aus dem Bestand der Lancia Squadra Corse. Damit nicht genug: Sein Dino-V6-Motor trug den Stempel „SC“, was ihn als von Ferrari präparierten Werkswagen auswies.


Ein solches Fahrzeug als Teilespender herzunehmen, mag heutzutage als Frevel gelten. Man sollte jedoch bedenken, dass Lancias Mutterkonzern Fiat gerade dabei war, den 131 Abarth für die Rallye-Saison 1978 vorzubereiten. Die Stratos-Beteiligung der Turiner war Ende 1977 also Geschichte. Gemessen daran, dass das Modell ausgelaufen war und Stradale-Versionen sich als schwer zu schalten herausgestellt hatten, ist diese Haltung nachvollziehbar.


Das Chassis wurde um rund zehn Zentimeter verlängert, aber ansonsten blieb der Unterbau des Stratos unverändert. Für die Außenhaut griff Gandini Stylings früherer Entwürfe auf, darunter Elemente des Alfa Romeo Navajo, des Ascot auf Jaguar XJ-S-Basis und des Ferrari Rainbow, aber das Endresultat wirkte geschlossener. Fiberglas blieb außen vor; die Karosse wurde in Handarbeit aus Stahlblech geformt. 


Da das Hauptaugenmerk auf der neuartigen Glasiertechnik ruhte, mit der Stahl und Glas nahtlos verschmolzen werden sollten, wurde es eng für Bertone, als die langjährige Partnerfirma Glaverbel an der Aufgabe scheiterte. Stattdessen sah man sich gezwungen, eingefärbte transparente Kunststoffpaneele in flache Fräsungen der Stahlbleche zu kleben. Deren Übergänge wurden bündig mit einer elastischen Füllmasse versehen. Eine Kombination aus Farbsprays, die innen und außen aufgebracht wurden, ließen die Karosseriefarbe und die Tönung der Fensterflächen ineinander übergehen – bis zu dem Punkt, dass dort, wo sich die Glasur mit dem Blechkleid vereinigte, lediglich  haarfeine Linien verblieben.

Öffentliche Kernschmelze


Zumindest war dies alles, was sichtbar war, als der Wagen der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Unglücklicherweise wölbten sich jedoch die hastig eingebauten Seitenfenster. Die Zeit reichte nicht mehr, sie vor der Enthüllung zu ersetzen. Als wäre das nicht schon genug gewesen, entpuppte sich Italien im April 1978 nicht gerade als harmonischer Fleck. Fiat-Chef Gianni Agnelli beschrieb Turin als einen „Vulkan vor dem Ausbruch“. Bewaffnete Polizeieinheiten waren vor der Messehalle aufmarschiert. Es grassierte die Angst vor anarchischen Zuständen.
Nichtsdestotrotz wurde der Sibilo mit großem Tamtam enthüllt. Die Resonanz der Medien hielt sich allerdings in Grenzen. Road & Track schrieb zwar, er sehe „eindrucksvoll“ aus, verglich seine Hülle aber auch mit einem „im Vakuum geformten“ Modellbahnrenner. Die Konkurrenz von Car sah in ihm hingegen einen „dunkelbraunen Tropfen, eingenebelt von künstlichen Lichtreflektionen, die es schwierig machen, seine Oberflächen auseinanderzuhalten“.


Die Car-Macher waren immerhin angetan genug, um ein paar Monate später eine Testfahrt mit dem Prototypen zu wagen. Und fahren ließ sich der Sibilo definitiv, auch wenn die farbige Glasur die Sicht spürbar beeinträchtigte. Car verglich ihn mit seinem Teilespender und schrieb: „Die Federung dieser Wagen ist herausragend. Der wesentlich schwerere Sibilo reitet nun auf der viel leichteren Stratos-Aufhängung, was nicht ganz dasselbe Resultat ergibt. Dennoch ist das Fahrgefühl auf den gepflasterten Straßen mittelalterlicher Bergdörfer exzellent – mit guter Dämpfung ohne Härtegrade bei minimaler Geräuschentwicklung. Der Sibilo ist ein wesentlich ruhigerer Wagen als der Stratos, weil er ohnehin vollkommen anders ausgerichtet ist, inklusive geringerer Motorgeräusche innen wie außen.“


Man vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, dass er dringend eine Klimaanlage bräuchte und die kleine kreisrunde Fensteröffnung allenfalls zum Bezahlen der Mautgebühr an der Autostrada tauge.


Das Problem für den Fotografen des Magazins war seine Farbe. Unter praktisch jedem Licht gingen die Details verloren. Bertone versuchte sich danach an weniger reflektierenden Schattierungen, aber da war der Presse-Tross schon weitergezogen. Der Sibilo wurde weiterhin auf Autoshows präsentiert und landete schließlich in Bertones Firmenmuseum. Dort verblieb er als weitere Designstudie, die von der Mode überholt worden war, bis zur öffentlichen Kernschmelze der Firma 2011.


Kronjuwelen aus dem Katalog


Der Sibilo gehörte zu sechs Kronjuwelen aus dem Bertone-Katalog, die versteigert werden mussten, um die Gläubiger zu befriedigen. Er kam zum Schnäppchenpreis von rund 115.000 Euro unter den Hammer. Immerhin gehört er nun zusammen mit vielen anderen Einzelstücken und Schaustehlern zum ausgedehnten Fuhrpark des italienischen Architekten und Immobilienhändlers Corrado Lopresto.


Der Signore mit seiner Sammlung von Arche-Ausmaßen hat keine Zeit verschwendet und den Wagen sofort bei Shows und Concour-Events ausgestellt. Der Wagen vermag ungebrochen zu beeindrucken, über seinen Platz in der Geschichte hinaus. Auf Unbedarfte wirkt er nach wie vor futuristisch, wenn auch nach Art eines irrealen Hollywood-Straßenfegers. Mutmaßlich provozierte er einst die Inspiration für den Heldenwagen in Arnold Schwarzeneggers Streifen „Total Recall“, aber das mag täuschen. Der Sibilo ist nicht genauso hübsch, nicht einmal annähernd, aber die Ähnlichkeit ist frappierend.


Mehr noch: Er erscheint weit kompakter und zweckdienlicher als auf Fotos und demonstriert zudem eine klare Fortführung früherer Stratos-Entwurfsthemen. Man nehme nur die Schlafaugen und die überdimensionalen Gussfelgen mit ihrer superbreiten Pirelli-P7-Bereifung. Aber vor allem ist er nicht herausgeputzt mit all den Spoilern, Ansaugtrichtern und Landeklappen, die zu seiner Zeit der letzte Schrei gewesen sind. Lediglich zwei dezente Lüftungsschlitze wurden in die Dachkonstruktion versenkt.


Der Zugang zum Motor ist indes nicht ganz so komfortabel wie beim regulären Stratos. Statt einer einteiligen Klappe kommt man nur über das Heckfenster an Wartungselemente wie Öleinfüllung oder Batterie. Viel mehr geht nicht. Die aus einem Stück bestehende Heckabdeckung kann zwar komplett entfernt werden, aber das hat seine Tücken. Man sollte zu zweit sein, denn das Ding wiegt schwer.


Bertone bekannte seinerzeit, der Sibilo verfüge über „deformierbare Strukturen“ und erfülle gleichzeitig die modernsten gesetzlichen Sicherheitsstandards für Stoßfänger. Dennoch war es nie ein Thema, den Wagen in Serie aufzulegen. Nicht einmal in begrenzter Stückzahl. Ohnehin ist der Prototyp nie ganz vollendet worden, zumal er das eigentlich beabsichtigte Glasur-Finish nicht erhalten hat. In mancherlei Hinsicht war der Sibilo (was so viel bedeutet wie ein Objekt, das durch die Luft zischt) also letztlich ein Paradebeispiel für Spiegelfechtereien im Nebel.


Höhenflüge heiligen Irrsinns


Vielsagend ist zumindest, dass Fiat bereits in jenen Jahren, als der Sibilo entstand, mit der chemischen Industrie zusammengearbeitet hat, um „homogene Formen“ zu entwickeln. Car berichtete seinerzeit: „Die Idee ist so gut, sie verspricht so viele Vorteile, und die ansprechende Karrosserieform [des Sibilo] ist so geradlinig und könnte derart geringere Reparaturkosten bedeuten, dass der Gedanke ganz angenehm ist, mit ein paar Utopien zu spielen und daran zu glauben, dass irgendein Vordenker eines Tages diese Vorlage aufgreifen wird. Wie schon früher so oft geschehen, wird auch das leuchtende, groteske Traumauto von heute möglicherweise schon morgen Wirklichkeit werden – oder zumindest teilweise.“ 


Nimmt man die Anzahl der aktuellen Serienfahrzeuge mit strukturellen Glas-Elementen, könnte man durchaus die Ansicht vertreten, dass dieses Utopia längst existiert.


Wie auch immer: Der Sibilo lebt in seiner eigenen kleinen Blase. Und dafür lieben wir ihn. Ganz unabhängig davon, was aus der Idee geworden ist oder auch nicht, verdienen Bertone und Gandini Lob. Denn sie haben faszinierende Ideen auf den Weg gebracht, als die Branche furchtbar berechenbar zu werden begann. 

 

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