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Maximale Entschleunigung mit Ronnie Ferrari


Buddha würde Snooker spielen

 

Eine Sportart, die massenhaft Deutsche vor den Bildschirmen fesselt, obwohl nicht ein einziger Germane in der Weltspitze zu finden ist? Die gibt es tatsächlich. Im ebenso kunstvollen wie dramatischen Snooker ist das Spiel der Star. Angeführt von einem Genie und Dutzenden von Halbgöttern.


Das Crucible Theatre in Sheffield ist ein Ort mit einer mystischen Aura wie Wembley oder Wimbledon. Jedes Jahr im April suchen die Magier des grünen Tischs auf der Insel ihren Meister. Hochkonzentriert und tiefenentspannt. Ähnliches ereignet sich Anfang Januar im Londoner Alexandra Palace beim Masters-Turnier der 16 Besten. Für Millionen von Liebhabern bedeuten die Matches maximale Entschleunigung.


Keine Tricks, keine Rempler


Snooker ist ein bisschen anders als all die anderen schönsten Nebensachen der Welt. In der denkbar fairsten Sportart gibt es ausschließlich technische Fouls: keine fiesen Tricks, keine Provokationen, kein Anrempeln des Schiedsrichters, kein Zeitschinden. Im Gegenteil: Zarteste Regelverstöße, die niemand wahrgenommen und nicht einmal der Referee erahnt hat, werden von den Gentlemen am Tisch grundsätzlich selbst angezeigt.


Dabei entscheiden in dem ebenso simplen wie komplexen Drama oft feinste Nuancen über Erfolg und Scheitern. Schach ist vergleichsweise ein eckiger Rangierbahnhof. Als Bildschirmsportart denkbar ungeeignet. Das gefühlvolle Spiel mit der Physik der bunten Bälle bietet hingegen eine ganze Dimension mehr und „ist wie fürs Fernsehen gemacht“, weiß Rolf Kalb, seit über drei Jahrzehnten Stimme des deutschsprachigen Fensters von Eurosport.  


1969 holte die BBC das Spiel aus den Clubs auf den Bildschirm, um für das 1967 eingeführte Farb-TV Stimmung zu machen. Ein Glücksgriff für alle Beteiligten. Innerhalb weniger Jahre wurde Snooker unvergleichlich populär. Ähnlich wie beim Tennis hat der Betrachter stets das gesamte Spielfeld vor Augen. Den Höhepunkt erreichte man 1985, als das dramatische WM-Finale bis nach Mitternacht von 18,5 Millionen Briten live verfolgt wurde, also rund der Hälfte der erwachsenen Bevölkerung.


Frisch wie ein Schneeglöckchen


Heutzutage profitiert das Spektakel auf Kammgarn aus australischer Schurwolle von einer der schillerndsten Ikonen der Sportgeschichte. Ronnie O’Sullivans Bedeutung ähnelt der von Muhammad Ali oder Johan Cruyff: begnadetes Talent, raumgreifende Persönlichkeit, Kassenmagnet. Der „Mozart des Snooker“ wird dank seiner künstlerisch vollendeten Spielweise von sämtlichen Meistern seines Fachs als größtes Genie aller Zeiten gerühmt. Inklusive diverser Ecken und Kanten, die nicht zuletzt daher rühren, dass er als Jungprofi mit 16 Jahren alleine zurechtkommen musste, weil beide Elternteile wegen Kapitalverbrechen hinter Gittern saßen. 


Früher hat der siebenfache Rekordweltmeister mitunter Turniere abgesagt, nachdem er zu viel Marihuana oder Schnäpse konsumiert hatte, was er in seiner Autobiografie „Running“ freimütig einräumt. Aber längst gilt der Frühsportler mit vielen täglichen Meilen Tempolauf bei jedem Wetter als fittester Mann der Branche und bei guter Tagesform als praktisch unschlagbar.


„Ich fühle mich frisch wie ein Schneeglöckchen“, sagte O’Sullivan im März 2018 am Rande der Players Championship in Wales. „Ich tauche hier und da auf und schnappe mir ein paar Pokale, weil ich den Aufwand zu dosieren weiß. Ich sehe mich als eine Art Ferrari – den kannst du auch nicht jeden Tag fahren. Du musst ihn polieren, in der Garage hüten und den Tachostand in Grenzen halten. Wenn du 300.000 Meilen damit fahren willst, wird er sonst schnell verschlissen sein.“


Aber auch ohne den Mittvierziger liegt die Latte für die technischen Standards in der Weltspitze so hoch wie nie. Derart viele begabte Könner hat kaum eine andere Einzelsportart zu bieten. 


Ronnies logischer Kronprinz ist Judd Trump, der seit mehr als einem Jahrzehnt als spektakulärster Queue-Künstler seiner Generation gilt, trotz etlicher Siege aber erst 2019 mit WM- und Masters-Sieg für harte Kritiker endgültig den Stempel des „ewigen Talents“ losgeworden ist. 

 
Barry Hearn spielt Gott


Die Zahl gut dotierter Turniere wächst seit 2010 kontinuierlich. Die Preisgelder haben sich in diesem Zeitraum auf über 14,5 Millionen Pfund pro Saison vervierfacht, Tendenz steigend. 


In den Jahren vor der Corona-Pandemie profitierte Barry Hearn, bis 2021 Vorstandsvorsitzender und 51-prozentiger Mehrheitseigner von World Snooker Ltd., nicht zuletzt vom gewaltig wachsenden chinesischen Markt. „Barry verkauft den Chinesen alles, solange die Geld drucken“, meint Bundessportwart Thomas Hein, als erster Landesmeister 1997 Pionier der deutschen Szene und Betreiber der Snooker-Akademie 15reds in Oberhausen.  


Angeführt von Top-Virtuose Ding Junhui haben sich längst diverse asiatische Hoffnungsträger in den Top 50 der Weltrangliste festgesetzt. Derzeit halten mehr als zwei Dutzend chinesische Profis eine der 128 begehrten Profi-Lizenzen. Die TV-Zuschauerzahlen bewegen sich im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich, die Kaderschmieden bringen ständig neue Könner hervor. Laut Hersteller Star werden in Fernost bis zu 1.500 Tische pro Monat neu montiert.


In Deutschland sitzen bei den Top-Events laut Eurosport alleine während der Übertragungen im frei empfangbaren Kanal des Senders stabil zwischen einer halben und einer dreiviertel Million Menschen vor den Bildschirmen. Wie viele Zuschauer die gebührenpflichtigen TV- und Internet-Angebote in Anspruch nehmen, hält das Tochterunternehmen des Discovery-Konzerns unter Verschluss. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Hinzu kommt das riesige Angebot von Highlight-Zusammenstellungen auf YouTube, vor allem mit Sendungen der BBC und ihren höchst unterhaltsamen Kommentatoren-Legenden wie John Virgo oder Steve Davis.


Anders schauen die Zahlen bei den einheimischen Aktiven aus. Im deutschen Ligabetrieb sind 4.000 Spieler gemeldet; an den freien Turnieren der German Snooker Tour nehmen pro Saison rund 600 teil. TV-Straßenfegern wie Biathlon mit seinen sparsamen 83 Aktiven in den Leistungskadern A bis C geht es in dieser Hinsicht kaum anders. Mit dem Unterschied, dass es bislang keinen deutschen Snooker-Zauberer gegeben hat, der die Weltspitze ernsthaft herausfordert hätte.  


Dieser Umstand scheint die vielen hiesigen Liebhaber jedoch nicht zu stören: Anders als im Tennis oder Skispringen spielt das Fehlen deutscher Zugpferde für das Publikum „offenbar keine Rolle“, freut sich Tomas Cesal, Veranstalter der beiden größten Turniere auf deutschem Boden, des längst als „Woodstock des Snooker“ gefeierten German Masters im Berliner Tempodrom und der European Masters in Nürnberg. Das Spiel ist der Star. 


Es fehlen 10.000 Tische


Mit dem 20-jährigen Berliner Simon Lichtenberg gewann 2018 erstmals ein Deutscher die Europameisterschaft der U21-Amateure. Dies garantierte ihm bis 2020 ein Ticket für die Profi-Tour. Die Qualifikation für zwei weitere Saisons auf der Premium-Ebene - einen Platz unter den Top 64 - schaffte er hingegen nicht. 


Mit wechselndem Erfolg auf der Main Tour unterwegs sind derzeit zwei deutschsprachige Spieler: Alexander Ursenbacher aus Basel, Halbfinalist der English Open 2017, und Lukas Kleckers aus Essen. Im Herbst 2017 räumte er bei den Northern Ireland Open im Spiel gegen Ronnie O’Sullivan einmal den kompletten Tisch ab: 36 hintereinander versenkte Bälle ergaben 137 Punkte – alles über 99 gilt als sogenanntes Century Break. Aber egal ob spektakulär oder mit hauchdünnem Vorsprung: Ein gewonnener Frame bringt nur einen Punkt. Das Match ging am Ende mit 4:2 an O’Sullivan. Und Kleckers musste am Ende der Saison 2018/19 die sogenannte Main Tour auf Rang 111 vorübergehend wieder verlassen. Der Konkurrenzdruck in dieser Sportart ist schlicht gnadenlos. Es gibt keine einfachen Gegner.


O’Sullivan wiederum durchbrach Anfang März 2019 eine Schallmauer und zauberte sein tausendstes Karriere-Century auf den Tisch. 15-mal in seiner 27-jährigen Profi-Laufbahn gelang O’Sullivan das Kunststück mit der magischen 147, der maximalen Höchstpunktzahl. 


Es sieht einfach aus – und ist doch so schwer: Hobbyspieler üben mitunter Jahre, um auf dem 6,34 Quadratmeter großen Zwölf-Fuß-Tisch mehr als 30 oder 40 Punkte am Stück einzusammeln (ein Poolbillard-Turniertisch kommt auf 3,22 Quadratmeter). Um es in den „Tunnel“ zu schaffen, wo das Spiel wie auf Schienen läuft, benötigt der Akteur eine Geisteshaltung auf dem schmalen Grat zwischen höchster Konzentration und tiefster Entspannung. „Eine Art Buddhismus“ nennt dies Thomas Hein.


Der Buchautor und methodische Tüftler sieht die einzige Chance, unter die Top-Spieler zu kommen, in systematischem Training: „Snooker ist sportwissenschaftlich null verarbeitet. Wir stehen noch ganz am Anfang. Wir könnten uns mit ein paar intelligenten Ideen auch einen Wettbewerbsvorteil für unsere jungen Talente aufbauen.“ 


Für Spitzenspieler wie Breitensportler wären hierzulande allerdings eine ganze Menge Tische mehr nötig. Rund 1.400 Exemplare sind in Deutschland öffentlich zugänglich. Rein unter leistungssportlichen Gesichtspunkten betrachtet, sind dies laut Thomas Hein „10.000 zu wenige“


Bügelwäsche im Hobbykeller


Die Mehrheit der bis zu anderthalb Tonnen schweren Möbel steht jedoch in Privathaushalten. Snooker-Schreiner Frieder Schädlich aus Leipzig weiß: „Die meisten Kunden, die sich einen neuen Tisch kaufen, sind sehr wohlhabend. Allerdings haben höchsten zwei oder drei von zehn zuvor eine intensivere Berührung mit dem Snookersport gehabt. Hinzu kommen Kunden wie Agenturen, Anwaltskanzleien oder Luxushotels, die sich einen Tisch zulegen, um das Ambiente eines englischen Zimmers abzurunden.“ Aber auch die Kollegen in weniger gut situierter Umgebung sind oft nur Dekoration. „Ich kenne einige Tische, die mit hohem Energieaufwand in irgendeinem Keller gelandet sind“, sagt Thomas Hein. „Und jetzt sitzt da die Bügelwäsche drauf.“


Neben der Förderung künftiger deutscher Profis geht es Hein jedoch vor allem um den sozialen Aspekt des Spiels. Am liebsten sähe er Snooker flächendeckend in den Schulsport integriert: „Was wir wirklich brauchen, ist Basis. Wir haben in Emmendingen ein Projekt mit schwer erziehbaren Jugendlichen umgesetzt. Da findet richtig was statt. Wir müssen einen Gegenpol zur Digitalisierung setzen. Bei Snooker geht es nicht nur darum, mit ein paar Freunden einen schönen Abend zu verbringen. Da kann ich auch die Playstation anschmeißen. Nein, dazu gehört mehr: Körper, Geist, alles Mögliche – bis hin zur Tischpflege. Dieses Spiel zieht dir jeden krummen Gedanken raus, denn du hast gar keine Zeit mehr, darüber nachzudenken.“


© Matthias Breusch, 2023 (Text)


Foto: Martin Fleig


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